Kieler Erinnerungstag:19. Juni 1954
Geistkämpfer von Ernst Barlach vor der Nikolaikirche enthüllt

„Die schleswig-holsteinische Landeshauptstadt hat ihre Barlach-Plastik wieder!" So berichteten die Kieler Nachrichten am 21. Juni 1954. „Neun Jahre nach Kriegsende und 17 Jahre nach ihrer gewaltsamen Entfernung wurde am Sonnabendnachmittag der 'Geistkämpfer' vor der Nikolaikirche wieder aufgestellt und damit diesem Kunstwerk ein Platz gegeben, der seiner Würde und seiner Bestimmung für die Bürger unserer Stadt entspricht. In einer kurzen Feierstunde, zu der sich neben Hunderten von Menschen, Vertreter der Stadt, der Kirche, des Landes und der Universität auf dem Alten Markt eingefunden hatten, wurde die Bedeutung dieses Tages am Vorabend der 'Kieler Woche' von Stadtschulrätin Jensen und Propst D. Asmussen DD gewürdigt...Stadtschulrätin Jensen brachte zum Ausdruck, dass kein besserer Platz gefunden werden könnte. 'Im Schutze der Kirche und am Strome des hier durchflutenden Lebens ist der Geistkämpfer ein Mahnmal im Zentrum der Stadt, der uns den Sieg des Geistes über die dunklen Kräfte verkündet!...Unter dem Geläut der Glocken von St. Nikolai wurde das Kunstwerk enthüllt.“ Damit hatte eine lange und bewegende Geschichte am 19. Juni 1954 ihr Ende gefunden.

Eine Großplastik zur Verschönerung Kiels

Der damalige Kieler Stadtoberbaurat Willy Hahn (1887-1930) bewies Mut zur Modernität, als er 1924 den expressionistischen Bildhauer Ernst Barlach, der 1870 in Wedel geboren war und in Güstrow lebte, bat, eine Großplastik zur Verschönerung Kiels zu schaffen. Schon 1922 hatte Barlach die „Schmerzensmutter“ mit dem eindrucksvollen Text „MIN HART BLÖTT VÖR GRAM AWERS DU GIFST MI KRAFT 1914-1918“ für die Nikolaikirche gefertigt. Sie wurde 1944 im Bombenkrieg zerstört.

Barlach lehnte zunächst den Auftrag für eine Großplastik ab, weil er sich „selbstgewählten Aufgaben“ widmen wolle, sagte dann aber 1927 doch zu, weil ihm jegliche künstlerische Freiheit ohne Einschränkung zugesichert wurde. Am 16. August 1927 beschloss der Kieler Magistrat, Barlach den Auftrag für eine Bronzefigur auf einem Sockel zu erteilen. Da die Zustimmung der Kirche wegen des Standorts der Plastik noch ausstand, schrieb Hahn am 22. November an den Kirchengemeindeverband: „Die Stadt Kiel beabsichtigt, im Anschluss an die Klosterkirche an der Gabelung Falckstraße und der Straße Klosterkirchhof ein plastisches Monument errichten zu lassen. Magistrat und Kunstkommission folgen damit einem seit längeren Jahren in diesen Instanzen schon gehegten Wunsche. Die Wahl des Platzes ist aus dem Gesichtspunkt erfolgt, damit die Altstadt an einer besonders hierfür geeigneten Stelle zu verschönern. Bezüglich des Künstlers hat man beschlossen, den z. Zt. bedeutendsten lebenden schleswig-holsteinischen Bildhauer Barlach zu beauftragen. Die Errichtung des Monuments ist von Barlach nach vorliegender Skizze so gedacht, dass auf einem Backsteinsockel, der sich im Material der Kirche anpasst, eine große Bronzefigur sich erhebt, die symbolisch etwa den Sieg des Gedankens über die dunklen Mächte des Daseins ausdrückt.“ Der Kirchenverband stimmte einen Tag später den Plänen zu.

Ernst Barlach erhält den Auftrag

Am 19. Januar 1928 unterzeichneten Willy Hahn und Ernst Barlach in Güstrow den Vertrag. Nach mehren Entwurfsskizzen und Absprachen mit der Stadt Kiel wurde die Bronzeplastik bei H. Noack in Berlin-Friedenau gegossen und der Sockel mit Klinkern der „Kieler Kunstkeramik AG“ verkleidet. Am 28. November 1928 berichtete Hahn nach Güstrow, dass die Figur in Kiel eingetroffen sei. Schon einen Tag später wurde sie vor der Heiligengeistkirche aufgestellt in Anwesenheit von Bernhard Böhmer, Barlachs Mitarbeiter, und Noack jun. von der Bildgießerei. Willy Hahn war an diesem Tag nicht in Kiel, auch Barlach fehlte, da er sich nicht wohl fühlte. Die Enthüllung des Kunstwerkes erfolgte wahrscheinlich am 8. Dezember 1928 „in aller Heimlichkeit, ohne Feier und Weihe“. Möglicherweise wollte man kein Aufsehen um die Person Barlachs erregen. Denn nationalistische Kreise hatten an ihm Kritik geübt, weil sein Name, ohne sein Wissen, zusammen mit denen von Künstlern und Wissenschaftlern unter einem kommunistischen Aufruf gegen den Bau eines Panzerkreuzers gestanden hatte. In Kiel aber spielten die Werften mit ihren Arbeitsplätzen eine wichtige wirtschaftliche Rolle.

Im Januar 1929 fuhr Barlach nach Kiel, um sein Werk vor Ort zu betrachten. An seinen Bruder schrieb er: „Die Aufnahme der Gruppe ist frostig und ablehnend. Man hatte...sogar das Schwert abgebogen in der Nacht, alle Rechtsparteien ziehen gegen mich vom Leder. Alle Dummheit wird laut und mit Behagen austrompetet“.

Der „Geistkämpfer“ – „die äußere Darstellung eines inneren Vorgangs“

Was Barlach geschaffen hatte, war kein heroisierendes Denkmal im Sinne der damaligen Weltanschauung. Über einem breiten Sockel spannt sich ein grimmiges Tier. Auf ihm steht ein Engel, den Kopf ein wenig zur Seite gedreht, die Stirn in Falten, den Blick nachdenklich und versonnen in die Ferne gerichtet. In beiden Händen hält er ein blankes, langes Schwert, das weit über seinen Kopf hinausragt.

Barlach antwortete einmal, diese Plastik sei „die äußere Darstellung eines inneren Vorganges“. An Stadtrat Hahn schrieb er in einem Brief: „Noack nennt die Arbeit hartnäckig 'Ehrenmal'. Und da ich daran denke, dass Sie selbst die Möglichkeit einer solchen Bestimmung erwogen, so könnte man vielleicht, diese Vorstellung folgend, das Werk als Gruppe der Überwindung, Selbstüberwindung ansprechen. Diese darzustellen, ist meine exakte Meinung gewesen. Das nach oben Strebende trennt sich vom Erdig-Horizontalen. Erweitert: Erhebung über den Leiden (Leiden hier: Gebundenheit an Trieb, Zweck und Schicksal in der Zeitlichkeit).“

Klaus Hupp, der sich intensiv mit der Figur des „Geistkämpfers“ auseinandergesetzt hat, schreibt dazu: „Ernst Barlach hat seine Botschaft und seine Selbsterfahrung vom Wesen Mensch durch die künstlerisch gestalteten Motive Sockel, Tier und Engel mit Schwert gleichnishaft verschlüsselt. Dem materiellen Sein als tragende Grundlage entspricht der Sockel, dem lebendigen, tierisch-triebhaften Sein, also der irdischen Bedingtheit des Menschen, entspricht das Tier, dem höheren seelisch-geistigen Sein und seinen transzendentalen Strebungen entspricht der Engel, und der obersten bewussten Entscheidungsinstanz oder, im religiösen Sinne, der unbeirrbaren Glaubenskraft entspricht das Schwert.“ Auch der Standort der Plastik vor der Kirche stellt den Engel „unter das Zeichen Gottes als ein Bekenntnis des geistigen Menschen zur Herrschaft des Geistes als die göttliche Kraft, die das Chaos ordnet (Claus Virch).

Einen Namen hatte Barlach seinem Werk nicht gegeben. In der Kieler Zeitung vom 11. Dezember 1928 wurde der Titel „Geistkämpfer“ vorgeschlagen. Barlach widersprach nicht, sondern akzeptierte ihn und benutze ihn selbst.

Der „Geistkämpfer“ als „entartete Kunst“

Der „Geistkämpfer“widersprach nach Inhalt und Form dem nationalsozialistischem Kunstverständnis. Am 12. August 1935 stand in der „Nordischen Rundschau“: „Es soll Leute geben, die diese Bronzeplastik in der Nische der Heiligengeistkirche in der Falckstraße zu den Sehenswürdigkeiten von Kiel zählen. Wir finden das Werk, ehrlich heraus, abscheulich...Wir haben keinen Sinn für derartige 'Kunst'. Wir lehnen sie als eine Entstellung und Verzerrung ab“. Das Werk sei „ den Zügen eines kulturbolschewistischen 'Kunst'-Schaffens erlegen“. Ein Marineoberbaurat i. R. schlug in einem Leserbrief vor, die Plastik mit einem Verschlag zu verkleiden und diesen bunt anzustreichen, denn das würde schöner aussehen als das Kunstwerk . Kaum ein Kieler wisse, „dass, wenn man einen alten Mann mit langem Mantel und do. Säbel auf einen großen Hund stellt, breitbeinig natürlich, damit er dem Hund nicht das Kreuz bricht, und wenn man dem Hund dann noch eine große Säge unter den Bauch hängt (Bitte überzeugen Sie sich!), dass das doch ganz selbstverständlich gar nichts anderes bedeuten kann als: 'Der Sieg des Ideelen!'“ Der Marineoberbaurat schlug vor, „die Entgleisung“ für das Vaterland zu opfern und einzuschmelzen.

Oberbürgermeister Walter Behrens wandte sich an Berlin und schlug die Entfernung der Plastik vor. Das Reichsministerium für Propaganda und Aufklärung mahnte zur Toleranz und Vorsicht. Aber im April 1936 sprachen sich die Mitglieder des Kieler Beirates für Kultur für eine Entfernung der Bronzeplastik aus. Allerdings solle sie ins Thaulow-Museum überführt werden.

In ganz Deutschland verschwanden Werke von Barlach aus öffentlichen Ausstellungen, er selbst wurde politisch überwacht. Er durfte zwar arbeiten, aber weder öffentlich ausstellen noch verkaufen. 1937, Barlachs „schlimmes Jahr“, wurde sein Domengel im Güstrower Dom abgehängt. An Hitlers Geburtstag, am 20. April 1937, entfernte man in Kiel den „Geistkämpfer“ einschließlich des Sockels. Der Museumsdirektor Ernst Sauermann stellte ihn jedoch gut sichtbar in die Eingangshalle des Thaulow-Museums.

Damit war der „Geistkämpfer“ aber immer noch nicht gerettet. Am 9. November 1937 forderte der Präsident der Reichskammer der bildenden Künste die Übersendung der Plastik nach Berlin, da „der Geistkämpfer unter die Beschlagnahmeaktion von Produkten der Verfallskunst“ falle. Oberbürgermeister Behrens, der sich wiederholt für das Einschmelzen der Figur ausgesprochen hatte, bot dieses nun erneut an, um die Transportkosten nach Berlin zu sparen. Museumsdirektor Sauermann versuchte den „Geistkämpfer“ zu retten, aber das Propagandaministerium teilte 1939 mit, dass durch Verfügung des Führers die Plastik beschlagnahmt und staatliches Eigentum geworden sei und ins Ausland verkauft werde. Der tatsächliche Käufer war Bernhard Böhmer, der einstige Mitarbeiter von Barlach. Er ließ den „Geistkämpfer“, in vier Teile zersägt, durch eine Speditionsfirma in die Bildgießerei nach Berlin-Friedenau zurückbringen. Von da gelangte die Figur in Kisten verpackt irgendwann während des Krieges auf den Hof des Barlach Freundes Hugo Körtzinger in Schnega in der Lüneburger Heide. Dort standen die Kisten bis zum Kriegsende teils auf dem Hof, teils in einem offenen Schuppen. Ernst Barlach hatte die Rettung seines Kunstwerkes nicht mehr erlebt. Er starb krank und verbittert am 24. Oktober 1938 und wurde auf dem Friedhof in Ratzeburg neben seinem Vater beigesetzt.

Der „Geistkämpfer“ kehrt in seine Heimatstadt zurück

1946 erfuhren die Kieler Behörden von der Rettung des „Geistkämpfers“. Sie machten selbstverständlich Besitzansprüche geltend und forderten die Rückführung der Barlach-Plastik nach Kiel. Aber die Angelegenheit erwies sich als sehr kompliziert. Denn Eigentumsansprüche erhoben außer der Stadt Kiel der Sohn Barlachs, der Sohn des 1945 verstorbenen Bernhard Böhmers und Hugo Körtzinger, der behauptete, Böhmer habe ihm die Figur verkauft. Einen Kaufvertrag konnte er allerdings nicht vorlegen. In siebenjährigen schwierigen Verhandlungen kämpfte Kiel um die Barlach-Plastik. Oberbürgermeister Andreas Gayk setzte sich persönlich dafür ein, dass der „Geistkämpfer“ für Kiel erhalten blieb. Endlich kam es zwischen den Beteiligten zu einem Vergleich. Für 20 900 DM kaufte die Stadt Kiel ihren „Geistkämpfer“ zurück.

Im Innenhof des Rathauses wurden durch die Firma Noack die vier Teile der Plastik wieder zusammengesetzt. Ihre Aufstellung an der alten Stelle war aber nicht möglich, weil die Heiligengeistkirche im Krieg zerstört worden war. Durch ein Gutachten wurde entschieden, dass die Plastik eines architektonischen Hintergrunds bedürfe und am besten vor ein gotisches Bauwerk passe. Der künstlerischen Absicht Barlachs entspreche daher die Aufstellung des „Geistkämpfers“ am besten vor der Nikolaikirche. So steht er dort seit 1954, allerdings durch die nachträgliche Bebauung des Alten Marktes z. T. verdeckt. Aber „von den Denkmälern und in der Stadt aufgestellten Kunstwerken erreicht bis heute keines die internationale künstlerische Bedeutung von Barlachs „Geistkämpfer“ (Jürgen Jensen).

Christa Geckeler

Autorin: Christa Geckeler (1937 - 2014)


Quellen

Akte Nr. 35360, Stadtarchiv Kiel

Literatur

Hupp, Klaus

Der Kieler „Geistkämpfer“ von Ernst Barlach. Darstellung, Deutung und Geschichte, Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Band 73, 1989, S.173-248

Jensen, Jürgen

Spiegelbild der Zeitgeschichte, in: Alt-Kiel und die Kieler Altstadt, Sonderveröffentlichung der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Band 31, Heide 1998, S. 98-100

Paravicini, Werner

Barlachs „Geistkämpfer“: Vom Sieg des Guten über das Böse, in: Begegnungen mit der Stadt Kiel. Gabe der Christian-Albrechts-Universität zur 750-Jahr-Feier der Stadt Kiel, hrsg. von Werner Paravicini in Zusammenarbeit mit Uwe Albrecht und Annette Henning, S. 35-38

Kieler Nachrichten

vom 19. und 21 Juni 1954

Schleswig-Holsteinische Volkszeitung

vom 19. Juni 1954


Abb.:

Titelbild: Stadtarchiv Kiel/Zacharias

1.: Landesamt für Denkmalpflege

2.und 4.: Sammlung Stadtarchiv

3. und 5.: Stadtarchiv Kiel/Lichtbildstelle


Dieser Artikel kann unter Angabe des Namens der Autorin Christa Geckeler, des Titels Kieler Erinnerungstage: 19. Juni 1954 | Geistkämpfer von Ernst Barlach vor der Nikolaikirche enthüllt und des Erscheinungsdatums 19. Juni 2009 zitiert werden.

Zitierlink: https://www.kiel.de/erinnerungstage?id=102

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