Kieler Erinnerungstag:26. April 1945
Vor 60 Jahren - systematische Erschießungen im Arbeitserziehungslager Nordmark

Als im Zweiten Weltkrieg die Alliierten im Frühjahr 1945 immer weiter auf deutschem Gebiet vordrangen, begann im „Arbeitserziehungslager“ (AEL) „Nordmark“ in Hassee die systematische Erschießung von Gefangenen. Das Register des Friedhofs Eichhof vermerkt für die Zeit vom 16. bis 26. April 119 Bestattungen von Opfern des AEL Nordmark, darunter über 60 Exekutierte. Viele von ihnen waren sowjetische Mitglieder der Widerstandsgruppe „Scoor“. 1964 machte ein ehemaliger Wachmann des Lagers vor der Kieler Staatsanwaltschaft folgende Aussage:

„Eines Tages wurden über 60 Mitglieder der Widerstandsgruppen im Bunker zusammengefasst...Die Opfer wurden in kleinen Gruppen zu fünf oder sechs Häftlingen vom Bunker zum Leichenhaus...geführt...Im Leichenhaus mussten sie sich restlos ausziehen. Ich hatte eine Liste, auf der sämtliche Namen der zu Erschießenden verzeichnet waren. Die Opfer wurden dann aus dem Leichenhaus nackt herausgeführt...Dann wurden die Opfer gezwungen, sich hinter dem Leichenhaus mit dem Kopf (Gesicht) nach unten auf die Erde zu legen...Wenn der betreffende Häftling auf der Erde lag, wurde er...mit der Maschinenpistole hinterrücks erschossen. Das Opfer blieb dann liegen und wurde nicht etwa beseitigt. Es wurde dann der nächste Häftling herausgeführt und gezwungen, sich neben die soeben erschossenen Personen zu legen. Dann wurde auch dieser Häftling getötet... So ging es insgesamt 60 Mal. Zum Schluss lagen die Häftlinge in zwei Reihen nebeneinander...“(Korte, siehe Literaturangaben).

Zeitzeugen erinnern sich außerdem, dass die Gestapo noch kurz vor Einmarsch der Briten ein Massaker in dem AEL anrichtete. Genaue Zahlen der Opfer sind aber nicht bekannt. Zeitzeugen sagten auch aus, dass die Gestapo in den letzten Kriegstagen ebenfalls Massenverbrechen an nicht inhaftierten Zwangsarbeitern in Kiel und anderen deutschen Städten plante, die z. T. aber durch die Häftlinge selbst, durch Deutsche oder die Besatzungsmächte verhindert wurden.

Errichtung des „Arbeitserziehungslagers Nordmark“


In Kiel und Deutschland insgesamt herrschte seit Kriegsausbruch Arbeitskräftemangel. In der Stadt gab es daher mehrere Zehntausend „Fremdarbeiter“ aus den von Deutschland während des Zweiten Weltkrieges besetzten Gebieten. Unter ihnen waren viele Zwangsverschleppte aus Osteuropa. Die Zwangsarbeiter wurden vor allem in der Rüstungsindustrie, d. h. in den Werften und ihren Zulieferbetrieben, unter schwersten Bedingungen beschäftigt. Wegen ihrer schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen häuften sich gegen Ende des Krieges Proteste und Arbeitsniederlegungen. Die Gestapo brachte verhaftete Arbeiter zunächst in das Polizeigefängnis in der Blumenstraße. Dies reichte für die steigende Zahl der Verhafteten bald nicht mehr aus, daher wurde im Frühjahr 1943 am Ostarbeiterlager Drachensee eine Polizeibaracke errichtet, die als AEL diente. Aber auch hier gab es bald Platzprobleme, als 1944 die Baracke durchschnittlich mit der doppelten Anzahl Häftlinge als vorgesehen belegt wurde. Nun errichtet die Gestapo ab Sommer 1944 am Russee das „Arbeitserziehungslager Nordmark“, das in Wirklichkeit ein Konzentrations-, aber kein Vernichtungslager war. Insgesamt waren hier in den zwölf Monaten des Bestehens ungefähr 5000 Häftlinge untergebracht, vor allem ausländische Zwangsarbeiter (85%), Russen und Polen unter ihnen machten 60% aus. In den letzten Kriegsmonaten lebten hier auch Gefangene aus anderen Konzentrationslagern und Haftanstalten, z. B. aus dem Polizeigefängnis Fuhlsbüttel und aus dem KZ-Außenkommando Stutthof „Gotenhafen“ bei Danzig, deren Häftlinge nach Neuengamme weitergeleitet wurden.

Die AEL sollten der Besserung „arbeitsunlustiger Elemente“ dienen. Genannte Gründe für die Einlieferung waren daher „Arbeitsbummelei“, „Arbeitsuntreue“, „Verstoß gegen die Arbeitsverträge“ und „Sabotage“. Es genügte aber auch, wenn jemand dem Vorgesetzten unsympathisch war oder dessen Schikanen nicht ohne Widerspruch hinnahm. Ein ehemaliger Lagerhäftling berichtet auch über andere Haftgründe:

„Ein junger Mann Mitte 20 war in einem Kieler Betrieb beschäftigt. Er besuchte eines Sonntags Verwandte in Flensburg, verpasste den Zug und kam erst am Montag mittags zur Arbeit. Die Gestapo (vom Arbeitgeber unterrichtet) bringt ihn ins AEL, Strafe 3 Wochen. Ein 62jähriger Mann, der angeblich aus Korn Schnaps gebrannt haben soll, bekommt eine Strafe von 1/2 Jahre AEL. Strafbunker, Füße erfroren, dann ins Revier... Eine Frau, die einem Kriegsgefangenen Brot gab, bekam die Strafe zwei Wochen AEL...Ein Kriegsgefangener soll einem Kameraden Brot gestohlen haben, Strafe AEL usw.“(Bringmann, siehe Literaturangaben).

Auch politisch Verdächtige waren im AEL. Hier ging es vor allem um die kommunistische Widerstandsgruppe „Scoor“. Bernhard Scoor, in Gaarden geboren, war im Maschinenamt der Stadt Kiel beschäftigt. Er knüpfte zu „Ostarbeitern“, vor allem zu sowjetischen Zwangsarbeitern, in verschiedenen Lagern Verbindungen. Geplant waren Anschläge beim Zurückweichen der deutschen Truppen. Scoor und weitere 150-200 Personen wurden im Oktober 1944 verhaftet, ins AEL Nordmark eingeliefert und kamen dort großteils im April 1945 um.

Die Haft war normaler Weise auf 56 Tage beschränkt. Während dieser Zeit war härteste Arbeit vorgesehen. Erwies sich der Häftling nach acht Wochen nicht als „erzogen“, erfolgte in der Regel die Einweisung in ein Konzentrationslager.

Die Inhaftierten wurden u.a. zum Bunkerbau und zur Trümmerräumung in der Stadt eingesetzt, wo sie unter Lebensgefahr Blindgänger beseitigen mussten. Manche Häftlinge wurden durch die Gestapo an Kieler Privatfirmen vermietet, z. B. arbeiteten sie bei der Holsten-Brauerei, in der Baufirma Ohle & Lovisa, der Nordland Fisch-Fabrik und im Rüstungsbetrieb Land- und See-Leichtbau GmbH.

Das unmenschliche Lagerleben




Das Lager zwischen Rendsburger Landstraße und Speckenbeker Weg bestand bei Kriegsende aus 17 Baracken, in denen 1400 männliche, 400 weibliche Häftlinge und 250 Angehörige des Wachpersonals, das sich zum großen Teil aus Kieler Fremdarbeitern zusammensetzte, untergebracht waren. Außerdem gab es den „Bunker“, ein großes, fensterloses Gebäude mit 48 Einzelzellen, in denen Häftlinge unter kaum zu ertragenden Bedingungen eingesperrt waren.

Die Baracken waren meist überfüllt, die hygienischen Verhältnisse unbeschreiblich, die sanitären Anlagen völlig unzureichend. Die Verpflegung bestand morgens aus zwei Scheiben Brot, einer Tasse Kaffee, mittags aus einem Teller Rübensuppe, d. h. Rüben in Wasser und Salz gekocht, und abends wieder aus zwei Stück trockenem Brot. Viele Häftlinge erkrankten oder starben an Entkräftung oder Darmkrankheiten. Das Hospital bestand aus einer kleinen Baracke, in der sich auf der einen Seite die Betten befanden, während die andere Seite als Leichenkammer diente.

Im letzten Vierteljahr des Krieges starben etwa drei bis fünf Menschen täglich im Lager, insgesamt betrug die Zahl des Toten im „Arbeitserziehungslager Nordmark“ fast 600.

Schläge und Misshandlungen waren an der Tagesordnung, ebenso Haft im „Bunker“. Dort stand in jeder Zelle die Pritsche fünf Zentimeter über dem Boden, das Wasser jedoch 20 cm hoch, das durch einen wasserdurchlässigen Stoff des Daches in die Zellen sickerte. Auch „Sonderbehandlungen“, d. h. Exekution meist durch Erschießung, wurden vorgenommen. Eine Gefangene erinnert sich:

„Es geschah auch, dass wir mitten am Tag in den Baracken eingeschlossen wurden. Dann wussten wir, dass Erschießungen stattfanden. Die Opfer waren Tage vorher in Einzelbunkern, die kein Dach hatten, nackend ohne Nahrung eingesperrt worden. Sie waren völlig entkräftet und wurden so herausgezerrt und auf eine Wiese geworfen. Dann kam der Kommandant und erschoss sie. Wir konnten das von unserer Baracke aus beobachten, wenn wir das Dach etwas anhoben. Ich muss allerdings sagen, dass ich auf diesen Anblick verzichtet habe – aber die Schüsse habe ich gehört“(Bringmann).

Das Lager wird befreit


In den letzten Kriegstagen entließen die Verantwortlichen des Lagers einige Häftlinge, vernichteten sämtliche Unterlagen und setzten sich in Zivilkleidung Richtung Dänemark ab.

Am 4. Mai 1945 befreiten britische Truppen das Lager. Sie fanden einige hundert Häftling im erbärmlichen Zustand vor und entdeckten die Massengräber. Die nackten oder halb nackten Leichen, unter ihnen Jugendliche, auch Mädchen, waren planlos übereinander gehäuft. Im Juni 1947 fand die britische Militärbehörde weitere 52 Skelette. Unweit dieser Stelle wurde bei Bauarbeiten 1962 ein weiteres Massengrab entdeckt.

Soweit die sterblichen Überreste der Lagerhäftlinge nicht in ihre Heimatländer oder auf andere Friedhöfe überführt wurden, wurden sie auf dem Friedhof Eichhof auf dem „Kriegs- und Bombenopferfeld der Landeshauptstadt Kiel“ in einem Sammelgrab zur letzten Ruhe gebettet.

Das Lager Russee und die Kieler Bevölkerung


Das „Arbeitserziehungslager Nordmark“ war keine „geheime Reichssache“, von der nur wenige wussten. Viele Kieler sahen die Elendszüge der entkräfteten Häftlinge, wenn sie auf klappernden Holzschuhen in Richtung Werft oder Schlachthof marschierten. Zurück kamen sie oft mit einem oder mehreren Toten, die auf einem Lattengerüst, notdürftig zugedeckt, zurück ins Lager getragen wurden.

Der damals neunjährige Jürgen Hennigsen schildert seine Erlebnisse:

„Jeden Abend kommt eine Kolonne durch unsere Straße. Sie kommen von Andersen-Leichtbau, einem Werk, in dem Jagdflugzeuge montiert werden und marschieren ins Lager am Speckenbeker Weg. Die uniformierte Begleitung ist bewaffnet. Hinten wird ein Karren gezogen. Gelegentlich liegt da einer unter der Plane. Totgeschlagen oder erschossen... Kam abends der Zug durch die Hasseer Straße, wurde diese plötzlich menschenleer. Niemand ließ sich sehen. Auch mein Bruder und ich wurden nach drinnen beordert; ich stand dann im Wohnzimmer und linste dann durch die Gardine – ich habe dem Zug viele Male abends durch die Straße kommen sehen. Einige Anwohner legten Kohlabfälle auf oder unter die Vorgartenhecken. Die Wachen sahen weg, die KZ-Leute nahmen die Abfälle mit sich“ (Korte).

Die Täter vor Gericht


Die britische Militärjustiz und auch die deutschen Gerichte befassten sich nach dem Krieg mit den im AEL Nordmark verübten Verbrechen. Angehörige der Lagerverwaltung und des Wachpersonals mussten sich wegen Tötung und Misshandlung verantworten.

Der Lagerkommandant Post und sein Stellvertreter Baumann wurden vom britischen Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ehemalige Wachleute erhielten z. T. langjährige Freiheitsstrafen. Der Hauptbeschuldigte für die Morde, der Kieler Gestapochef Fritz Schmidt, konnte erst 1963 verhaftet werden, da er untergetaucht war. Sein Verfahren wurde mangels Beweises eingestellt.

Autorin: Christa Geckeler (1937 - 2014)


Literatur

Bringmann,

Fritz: „Arbeitserziehungslager Nordmark“. Berichte, Erlebnisse, Dokumente, Herausgeber: VVN – Bund der Antifaschisten, Landesverband Schleswig-Holstein, Kiel, o. J.

Dopheide,

Renate: Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in Kiel und Umgebung, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 77, 1993

Kieler Nachrichten

vom 1. Februar 2002, vom 28. Januar 2003, vom 5. Mai 2003

Korte,

Detlef: „Erziehung“ ins Massengrab. Die Geschichte des „Arbeitserziehungslagers Nordmark“ Kiel Russee 1944-45, Veröffentlichung des Beirates für Geschichte der Arbeiterbewegung und Demokratie in Schleswig-Holstein 10, Kiel 1991

Klußmann,

Jan: Zwangsarbeit in der Kriegsmarinestadt Kiel 1939-1945. Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Band 81, Bielefeld 2004

Stolz,

Gerd: Menschen und Ereignisse – Gedenktafeln in Kiel, Husum 2001






Dieser Artikel kann unter Angabe des Namens der Autorin Christa Geckeler, des Titels Kieler Erinnerungstage: 26. April 1945 | Vor 60 Jahren - systematische Erschießungen im Arbeitserziehungslager Nordmark und des Erscheinungsdatums 26. April 2005 zitiert werden.

Zitierlink: https://www.kiel.de/erinnerungstage?id=33

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