Kieler Erinnerungstag:Februar 1929
Eiswinter in Kiel

Der Winter 1928/29 war der kälteste des 20. Jahrhunderts in Deutschland.

Anfang Februar 1929 lagen die Tiefsttemperaturen in Kiel bei -14° C, in der Umgebung der Stadt bei -18° C, an der Nordseeküste bei -9 bis -14° C. In Schlesien wurden -25° C gemessen, in Ostpreußen -27° C und in München -21° C.

Schon der Dezember und Januar waren kälter als üblich gewesen. Verursacht wurde der extreme Winter durch Hochdruckwetterlagen über Skandinavien und Osteuropa, die sehr kalte kontinentale Luftmassen nach Deutschland und Europa transportierten. Die typischen Westwindwetterlagen, die milde atlantische Luft mit sich nach Deutschland brachten, fehlten in diesem Winter.

Schon Anfang Januar war die Schifffahrt nach Wismar nur mit Eisbrecherhilfe möglich. In der Kieler Förde hatte sich eine dünne Eisdecke gebildet. Nur starke Dampfer konnten hier fahren. Ende Januar brauchten dann die Schiffe zwischen Lübeck und Travemünde ebenfalls Eisbrecherhilfe. Der Verkehr durch den Nord-Ostsee-Kanal konnte noch durch eine aufgebrochene Fahrrinne im Treibeis aufrecht erhalten werden. Im Februar spitzte sich die Lage aber dramatisch zu.

Friert die Kieler Förde zu?

Die „Kieler Zeitung“ vom 8. Februar 1929 berichtete:

„Ein Spaziergang am Hafen entlang ist in dieser Winterszeit interessant. Wandert man von der Hörn aus die Kaiflächen längs, so hat man einen umfassenden Blick zunächst über den gesamten Innenhafen, der außer einer kleinen eisfreien Ecke in der Hörn vor der Germaniawerft wie eine einzige schneebedeckte Eisfläche aussieht. Von der Ablegebrücke der Hafenrundfahrt ab zieht sich die mit Eisschollen gefüllte Fahrrinne zunächst zum Ostufer, der Gaardener Anlegebrücke entlang bis zum Seegarten. Auch der städtische Fährdampfer pflügt sich noch unentwegt durch die sich hinter ihm immer wieder zusammenschiebenden Eisschollen, die teilweise in- und untereinander geschoben, eine beträchtliche Stärke aufweisen. [...] So eine winterliche Fördefahrt durch die Eismassen ist von besonderem Reiz. Vorsichtig verlässt der Dampfer seine Anlegestelle, wendet unter großem Spektakel der brechenden Eisschollen und schert in die Fahrrinne. Die Schrauben der Schiffe haben einen großen Teil der Schollen zermahlen, und die Fahrt geht deshalb ohne Schwierigkeiten durch diesen Eisbrei. Wie wir sehen, benutzen zahlreiche Leute zwischen Seegarten- und Reventlowbrücke das landfeste Eis als Weg. [...] Vor Holtenau entdecken wir eine große Menge von Dampfern, über 40 Schiffe zählen wir. Dazwischen erkennt man ein schlankes Segelschulschiff, die „Bremen“, die nach Danzig mit Salpeter sollte, aber wieder zurück musste. Das Eis der Wiker Bucht ist von zahlreichen Spaziergängern belebt. [...] Durch eine enge Fahrrinne geht die Fahrt nach Friedrichsort. Wir begegnen dem Eisbrecher „Bussard“ und beobachten interessiert seine Arbeit. Ein lautes Knirschen und Scheuern belehrt uns, dass wir ausweichen mussten und außerhalb der Fahrrinne fahren. Einen mächtigen Lärm machen die großen Schollen, die mit der Schiffsschraube in Berührung geraten. Das Poltern hört aber auf, als wir wieder in die Fahrrinne kommen. Auf der Fahrt nach Laboe beginnt der Skandal noch einmal. Die Fahrrinne ist schon wieder durch zusammengeschobenes Eis geschlossen. Es ist eine mächtige Beanspruchung der Schiffsverbände, aber wir kommen durch die enge Einfahrt in den Laboer Hafen.“

60 Schiffe auf der Holtenauer Reede eingefroren

Am 12. Februar heißt es in der „Kieler Zeitung“:

„Die große Ansammlung von Dampfern, die augenblicklich in Holtenau liegt, war das Ziel mancher Leute, denen es natürlich viel Spaß machte, ganz an die manchmal recht großen Schiffe heranzugehen. Die Besatzungen führen ein bequemes Leben, und die Holtenauer Schiffshändler haben an der Verpflegung der über 1000 Köpfe zählenden Besatzung eine gute Einnahmequelle, denn die meisten Dampfer haben ihren Proviantbestand bereits verbraucht. Die Kapitäne und besonders die Reeder sind natürlich über das Festliegen keineswegs erbaut, besonders, weil sich noch gar nicht voraussehen lässt, wann die Schiffe ihren Weg fortsetzen können. Immerhin sind sie ja noch nicht so schlimm dran, wie jenes Schiff im Kattegatt,das im Kampf mit dem Eis den ganzen Kohlenbestand verbrauchte und schließlich die Ladung, aus Klippfisch bestehend, zum Heizen benutzte. Muss das „gerochen“ haben.“

Am 12. Februar lagen 60 Schiffe aller Nationen auf der Holtenauer Reede fest, am 14. Februar im Kieler Hafen insgesamt 137 Schiffe. Der Betrieb auf dem Nord-Ostsee-Kanal war am 10. Februar völlig eingestellt worden. Das Eis hatte eine Dicke von 30 bis 50 cm erreicht, so dass Autos darauf fahren konnten.

Schiffe in Eisnot

Draußen auf der Ostsee waren zahlreiche Schiffe eingefroren. Vielen gingen die Kohlen und Proviantvorräte aus. Hinzu kam die Kälte. In dieser Situation half die Marine. Die Linienschiffe „Elsaß“ und „Schleswig-Holstein“ leisteten von Kiel aus Eisbrecherhilfe, indem sie versuchten, an die eingeschlossenen Schiffe heranzukommen und sie in ihrem Fahrwasser sicher in den Kieler Hafen zu bringen. Häufig gelang es, aber manchmal waren die Dampfer durch die Vereisung der Bordwände so schwer und daher träge, dass sich die aufgebrochene Fahrrinne schon wieder geschlossen hatte, bevor sie folgen konnten. Waren genügend Vorräte an Bord, wurde es aufgegeben, die Schiffe weiterzubringen. Mehrere Male blieben die Linienschiffe selbst im Eis stecken und mussten versuchen, mit ihren 16 000 PS freizukommen.

Auch Flugzeuge kamen zur Hilfe. Da die meisten Dampfer, besonders die kleineren, keine Sendestation besaßen, konnten sie ihren Standort nicht mitteilen. Viele Handelsschiffe galten daher als vermisst. Durch die Einrichtung eines ständigen Flugdienstes gelang es, sämtliche in der Ostsee eingefrorenen Schiffe zu sichten und ihren Standort festzulegen. Über Funkspruch wurden die eingeschlossenen Schiffe benachrichtigt, dass Flugzeuge Proviant bringen würden. Die Schiffe, die sich in besonders großer Not befänden, sollten sich durch Rauchpatronen bemerkbar machen. Für sie wurde Proviant abgeworfen. Manchmal hatte die Schiffsbesatzung auch Nachrichten und Wünsche mit Kohlenstaub auf den Neuschnee geschrieben.

Der Lostengesangverein „Knurrhahn“ entsteht

Nicht nur die Seeleute konnten keiner geregelten Arbeit nachgehen, auch Fischer waren in diesem Winter betroffen. Trotzdem machten sich einige von ihnen in der Kälte und Eiswüste an die Arbeit. Mit einem Schlitten marschierten sie zwischen Möltenort und Laboe neben der Fahrrinne, schlugen mit der Axt Löcher ins Eis und versuchten mühselig ein paar Dorsche zu angeln. Eine Fangart vergangener Jahrhunderte!

In Holtenau saßen die Lotsen untätig in der Wartehalle. Sie trafen sich auch häufig in der alten Waffenschmiede. Hier entstand die Idee, die alten Lieder, die sie früher auf den großen Frachtseglern gesungen hatten, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Das war die Geburtsstunde des Lotsengesangvereins „Knurrhahn“, der sich zum Ziel setzte, die seemännischen Volkslieder, die Shanties, die vom Brauchtum auf See in vergangenen Zeiten handelten, zu sammeln, zu pflegen und in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Noch heute ist der „Knurrhahn“ einer der bekanntesten Lotsengesangvereine.

Wasserrohrbrüche – erfrorene Hände und Ohren

Die Menschen litten nicht nur auf hoher See unter dem Eiswinter, sondern auch an Land. Am 10. Februar war in Kiel an einigen Stellen -26° C gemessen worden. Durch den steifen Südostwind herrschte eine schneidende Kälte. Wer konnte, nutzte die Straßenbahn, um möglichst kurz im Freien zu sein. „Die Milchhändler hatten große Schwierigkeiten, ihre Milch in Liter abzumessen, denn die Kannen waren meistens bis auf den Grund gefroren. Man sah deshalb an vielen Stellen oft nicht mehr ganz junge Milchhandelsbeflissene ihre großen Kannen mit aller Gewalt und nicht gerade melodischem Geräusch gegen die Räder ihrer Vehikel ballern.

Auch mit dem Wasser ist das so eine Sache, in zahllosen Häusern sind die Wasserrohre in den letzten Tagen gefroren, und die Zahl der Wasserrohrbrüche wird bei Tauwetter sicher sehr groß werden. Für die Einwohner ist das eine Quelle der Beunruhigung, und außerdem haben sie augenblicklich noch die Lauferei nach dem oft nicht gern gegebenen Wasser. Der an einer Stelle geforderte Preis von 10 Pfg. für den Eimer Wasser ist geradezu wucherisch. Es sei hier nochmals festgestellt, 1cbm, also 1000 Liter Wasser, kosten 10 Pfg. Für den Groschen kann man also 100 gewöhnliche 10 Liter-Eimer Wasser erhalten!“ (Kieler Zeitung vom 12. Februar 1929).

Auch der Eisenbahnverkehr war von der Kälte betroffen. Der Frost ließ Signale und Weichen einfrieren, Züge hatten Verspätung, Anschlüsse wurden verpasst. Mancher Reisende kam durchfroren in Kiel an, weil außerdem Störungen bei der Zugheizung aufgetreten waren und auf jeder Station die völlig vereisten Fenster geöffnet werden mussten, um den Zielort nicht zu verpassen. Es wurde daher vorgeschlagen, dass die Bahnbeamten die Stationsnamen laut und deutlich ausrufen mögen.

Der starke Frost bedeutete für die Kliniken viel Arbeit. Einem jungen Mann, der von Kiel zu einem Fußballspiel nach Bordesholm mit dem Fahrrad gefahren war, erfroren die Hände. Mit erfrorenem Ohren kam ein Mann nach Kiel zurück, der eine Maskerade in Blumenthal besucht hatte und zwei Stunden zu Fuß unterwegs gewesen war. Ein erfrorenes Ohr und eine gefühllose Gesichtshälfte hatte ein Musiker, der in der Umgebung zum Tanz aufgespielt hatte. Auf dem Heimweg kam der Angetrunkene mit einem Kollegen in Streit, fiel hin, konnte wegen der Glätte nicht wieder auf die Beine kommen. Als es ihm dann doch gelang, waren schon Frostschäden eingetreten.

Die Kieler Zeitung sah sich daher in diesem extremen Winter veranlasst, Ratschläge zu erteilen, wie man Kälteschäden vermeiden könne.

Deutschland braucht Eisbrecher

Ende Februar sind der Nord-Ostsee-Kanal und die Ostsee immer noch zugefroren. In der Kieler Förde wird mühsam eine Fahrrinne frei gehalten. Auf der Höhe Friedrichsort-Laboe aber beginnt, wie die Kieler Zeitung vom 28. Februar 1929 berichtet, die „endlose, durch keine Fahrrinne unterbrochene Eiswüste [...], und ganz am Horizont erhebt sich im letzten Dunstkreis die große Eisbarriere der Ostsee, die selbst unsere schweren Linienschiffe nicht mehr meistern können.“

In der Presse wurde beklagt, dass Deutschland nicht über normale, leistungsstarke Eisbrecher verfüge. Es sei Pflicht der Reichsregierung, dafür zu sorgen, dass dieser Nachteil behoben werde. Denn der wirtschaftliche Schaden für die Reeder sei sehr groß, da ihre Schiffe in der Ostsee fest lägen und auch den Nord-Ostsee-Kanals nicht passieren könnten. In Schweden werde schon diskutiert, ob man in Zukunft den Kanal nicht umgehen solle.

Ende Februar entschloss sich das Reichs-Kanalamt zusammen mit dem Verband deutscher Reeder, die Sowjetunion zu bitten, ihre Eisbrecher „Jermak“ und „Truvor“ zu schicken.

„Jermak“ und „Truvor“ kämpfen sich nach Kiel durch

Ende Februar waren die Eisbrecher auf dem Wege nach Kiel, wobei sie unterwegs etliche Handelsschiffe aus dem Eis befreiten. Dies erwies sich als sehr schwierig und zeitraubend. Am 3. März setzten dann schwere Weststürme ein, die eine starke Eisversetzung nach Osten zur Folge hatte, was für die Handelsschiffe gefährlich wurde. Man beschloss daher, sie in Warnemünde in Sicherheit zu bringen. Die Eisbrecher nahmen danach wieder Kurs auf Kiel, aber die Westwinde trieben die Eismassen gegen die Fahrtrichtung der Schiffe, so dass sie nach Osten abgedrängt wurden. Vergebliches Warten in Kiel.

Endlich am 7. März wurde „Jermak“ in der Außenförde gesichtet. Nach Aufbrechen der Eisbarriere ging es in glatter Fahrt zur Holtenauer Schleuse. Hier bunkerte der Eisbrecher Kohle. Aber an das Aufbrechen des Kanals war nicht zu denken, denn „Jermak“ musste dem in der Mecklenburger Bucht in Seenot geratenen Dampfer „Sejm“, der sich im Schlepp des Eisbrecher „Truvors“ befand, Hilfe leisten.

Das Eis des Nord-Ostsee-Kanals wird aufgebrochen

Endlich, nach schwierigen Eisverhältnissen, Nebel und Befreiung einer großen Anzahl von Schiffen aus dem Packeis, trafen am 14. März „Jermak“ und „Truvor“ wieder in Holtenau ein. Das Reichsverkehrsministerium hatte ihnen den Auftrag erteilt, „beschleunigt und ohne jegliche Abweichung durch anderen Umstand den Nord-Ostsee-Kanal aufzubrechen“. Denn es sollte verhindert werden, dass bei eisfreier oder passierbarer Nord- und Ostsee der Kanal noch immer geschlossen war.

Am 15. März begannen die Eisbrecher mit einer gewissen Leichtigkeit ihre Arbeit. „Truvor“ zerbrach die 40 cm dicke Eisdecke des Kanals, der große „Jermak“ folgte in seinem Kielwasser, wobei wieder eingefrorene Dampfer befreit wurden. Auf dem letzten Stück vor Brunsbüttel aber wurde es schwierig. Hier war das Eis 1m dick. Es bedurfte großer Anstrengungen und mehrerer Abläufe, überhaupt eine Fahrrinne aufzubrechen.

Von Brunsbüttel traten die Eisbrecher dann ihre Rückfahrt nach Kiel an, um die Fahrrinne im Kanal zu verbreitern. Unter Führung von „Jermak“ und „Truvor“ konnten am 18. März die ersten Schiffe den Kanal von Westen nach Osten durchfahren. Am Abend des gleichen Tages begleitete „Truvor“ Schiffe von Holtenau westwärts. Nach fünf Wochen, vom 10. Februar bis zum 18. März 1929, begann sich die Schifffahrt auf dem Kanal langsam zu normalisieren.

Ein ungewöhnlicher, aber nicht einmaliger Winter

Der Winter 1928/29 hatte ganz Deutschland und Europa fest im Griff. Sämtliche Flüsse und Seen waren in Deutschland zugefroren. Nordeuropa meldete Temperaturen um -31° C, Russland -35° C. Auch in England lagen die Temperaturen unter Null. Die Themse war zugefroren, und im Ärmelkanal gab es Eis. In Südfrankreich wurden -6° C gemessen, im mittleren Frankreich bis zu -18° C.

Diese starken Eiswinter hatte es immer wieder gegeben. Z. B. war in den Jahren 1849 bis 1895 in 22 Wintern der Kieler Hafen für die Schifffahrt gesperrt. Im 20. Jahrhundert war die Ostsee dreimal vereist: 1939/40, 1941/42 und 1946/47. Sehr strenge Winter gab es auch in den Jahren 1986/87 und 1995/96, in denen Teile der offenen Ostsee zugefroren waren.

Autorin: Christa Geckeler (1937 - 2014)


Literatur

Flechsig, Hans

Erinnerungen eines Kieler Arztes, Kiel 1988, S. 33-34

Kieler Nachrichten

vom 23. Februar 1999

Kieler Zeitung

vom 11. Januar 1929 bis 19. März 1929

Marnau, Björn

Vor 80 Jahren: Der Eiswinter 1922, in: Schleswig-Holstein. Kultur, Geschichte, Natur, Nr. 3/2002, S. 1-3

Rühr, Friedrich Karl

Der Lotsenchor „Knurrhahn“ Kiel/Holtenau, in: Schleswig-Holstein. Kultur, Geschichte, Natur, Nr. 9/1974, S. 246-247

www.wetterzentrale.de:Eisbildung Ostsee



Dieser Artikel kann unter Angabe des Namens der Autorin Christa Geckeler, des Titels Kieler Erinnerungstage: Februar 1929 | Eiswinter in Kiel und des Erscheinungsdatums 01. Februar 2009 zitiert werden.

Zitierlink: https://www.kiel.de/erinnerungstage?id=98

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