Nachhaltiges Kiel
Wir machen Zukunft
In Kiel gibt es viele engagierte Menschen, die sich mit guten Ideen und viel Tatendrang dafür einsetzen, dass unsere Fördestadt nachhaltig und zukunftsfähig wird.
Jeden Monat stellen wir eine*n Kieler Zukunftsmacher*in in einem Kurzinterview vor. Sie kennen Leute, die unbedingt dazugehören? Dann lassen Sie uns das gerne wissen.
Oktober 2021 Andzelika Neer - Kiez-Kiosk in der Wik
Was hat Dich nach Kiel geführt?
Artikel 116 des Grundgesetzes, meine geliebten Großeltern, die sich ein Jahr zuvor auf eine Reise begeben haben und nicht wieder zurückgekehrt sind, ein Touristenvisum, eine Zugfahrt, auf der ich das Zählen bis 10 in der Geheimsprache gelernt habe, die meine Mutter und Oma immer gesprochen haben, wenn es etwas vor uns Kindern zu verbergen gab, eisiger Winter, eiserner Vorhang, Endstation Kiel, Neuanfang Kiel. Eine Notiz aus meinem persönlichen Weihnachtsmärchen, die Kurzfassung.
Was genau machst Du?
Ich bin Andzelika und betreibe ehrenamtlich den Kiez.Kiosk im Anscharpark in der Wik, der aus einer Nachbarschaftsinitiative heraus entstanden ist. Unser Kiez-Kiosk war ursprünglich Wärterhäuschen des Marinelazaretts, später dann der Kiosk im damaligen „Rotlicht- und Vergnügungsbezirk“. Nach einigen Jahren des Lehrstandes haben wir ihn wieder zum Leben erweckt.
Wir betreiben ihn jedoch nicht als herkömmlichen Kiosk, vielmehr geht es uns um die Funktion eines Kiosks im Viertel. Charakteristisch ist dabei ein breites „To Go-Angebot“, aber auch der Kiosk in seiner Funktion als zentraler sozialer Treff- und Informationspunkt. Der Kiez.Kiosk ist eine "bunte Tüte" aus Kunst, Kultur und sozialem Miteinander. Da dieser noch nicht renoviert ist, veranstalten wir einfach um den Kiosk herum und sind vom Anscharcampus eingeladen zum Beispiel das Kesselhaus mit zu nutzen. Wir möchten den Kiez bereichern und ein kreativer, offener Ort des Austausches sein.
Gestartet sind wir mit der Anscharflotte, einer Sammlung von Kinderfahrzeugen im Anscharpark, die auf den Spielplätzen stehen und durch die Kids rege genutzt werden. In der ersten Corona-Welle, als die Spielplätze gesperrt wurden, eröffnete der Spiele-Schuppen, in dem Spiele und Outdoor-Spielgeräte für Kinder und Erwachsene lagern und gemeinschaftlich genutzt werden können.
Mithilfe einer Umfrage haben wir Ideen von Anwohner*innen für den Kiez gesammelt und wollen zur aktiven Mitgestaltung anregen. Wir machen verschiedenste Aktionen und Veranstaltungen. Zusammen mit Ozeankind haben wir zum Beispiel bei einem gemeinsamen Clean-Up Müll gesammelt. Zuletzt haben wir eine Ausstellung mit Kunstwerken der Kinder aus dem Viertel eröffnen können.
An unserem Kiosk gibt es eine Infotafel, einen Briefkasten für Briefe, Infos und Flyer, einen Büchertausch-Schrank und die Infofenster am Kiosk, so dass dieser trotz Baufälligkeit genutzt wird. Der "Klatsch und Tratsch“-Kanal bei Instagram läuft ausgezeichnet, ganz wie "früher", als sich die Menschen noch ihre Tageszeitung und den Kaffee am Kiosk abholen und dabei spannende Neuigkeiten gleich mit.
Welche SDGs sind von Deinem Engagement besonders berührt?
Das zentrale SDG in unserer Arbeit ist das SDG 11 „Nachhaltige Städte und Gemeinden“. Wir möchten uns mit unserem Engagement für eine kreative, nachhaltige, nichtkommerzielle Nutzung von städtischen Räumen einsetzen - für eine Wiederaneignung des öffentlichen Raumes! Ein wichtiger Aspekt nachhaltiger Städte ist die Frage der Mobilität. Bei einem Park-ing Day haben wir im Juli mit einem bunten Nachbarschaftsfest auf der Straße und den Parkplätzen vor unserem Kiosk aufgezeigt, wie schön und bunt eine alternative Nutzung dieser städtischen Flächen aussehen könnte. Wir wollen dazu einladen statt den Einschränkungen den Mehrwert des Fahrrads, Autofreier Zonen und eines gut ausgebauten Nahverkehrs kennenzulernen und zu erleben.
SDG 5 „Geschlechtergerechtigkeit“ und SDG 10 „weniger Ungleichheiten“ sind wichtige Grundsätze unserer Arbeit, die sich sowohl in unserem Wirken auf Instagram als auch in unseren Veranstaltungen wiederspiegeln. So haben wir beispielsweise Geld für ein Frauenprojekt in Afghanistan beim Soli-Tresen bei einer unserer Veranstaltungen gesammelt oder mit der Aktion „Friedenslicht“ zusammen mit der Petruskirche und der Seebrücke Kiel auf die Situation an Europas Außengrenzen aufmerksam gemacht. Das SDG 10 bedeutet für uns auch, dass städtischer Raum für alle nutzbar sein soll. Wir arbeiten dazu beispielsweise eng mit dem Projekt Inklusives Quartier im Anscharpark zusammen, welches die Bedürfnisse von verschiedenen Bewohner*innen-Gruppen in den Blick nimmt, die sonst nicht immer obere Priorität haben. Unsere Angebote und Aktion sind geldbeutelunabhängig - denn niemand soll ausgeschlossen werden.
Und so ist auch das SDG 12 „Nachhaltiger Konsum“ von großer Bedeutung bei uns: teilen statt besitzen, nutzen statt haben ist das Motto. Das wird durch die Anscharflotte, den Spiele-Schuppen, bei Reparatur-Workshops oder einem „Zu-Verschenke-Tisch“ für Große und Kleine erlebbar. Und schon sind wir beim SDG 4 „Hochwertige Bildung“ und bei Bildung für eine Nachhaltige Entwicklung.
Wir möchten in unserem Kiez und in der Stadt unterschiedliche Akteur*innen zusammenbringen und sind große Fans der Vernetzung, deshalb soll das SDG 17 „Partnerschaften zu Erreichung der Ziele“ nicht unerwähnt bleiben.
Warum findest du Nachhaltigkeit wichtig?
Nachhaltigkeit betrifft uns alle, sie ist in meinen Augen alternativlos und das Wichtigste - Nachhaltigkeit macht Spaß! Jede*r kann einen Beitrag dazu leisten, dass diese auch gelebt wird.
Ich werfe zunächst einmal eine These in den Raum: „Kunst und Kultur spielen eine zentrale Rolle auf dem Weg zu einer nachhaltigen, umweltbewussten und sozial verantwortlichen Gemeinschaft.“ Mein Motto ist deshalb: „Kunst und Kultur für alle“. Kostenlose Kunst- und Kulturangebote können viele Menschen (wenn diese barrierefrei sind) erreichen und neue Horizonte eröffnen. Kunst kann bedeuten, Herausforderungen in Visionen zu übersetzen und dazu zu inspirieren, neue Wege zu gehen. Kulturschaffende wirken aktiv auf gesellschaftliche Entwicklungen ein. Veränderung ist in meinen Augen ohne Kunst und Kultur einfach nicht machbar.
Nachhaltigkeit bedeutet auch, seine Besitztümer zu teilen. Es macht viel mehr Spaß zu teilen und hat einen tollen sozialen Nebeneffekt. Bei uns im Anscharpark teilen sich die Kids die Fahrzeuge und es ist so schön zu sehen, wie toll dies funktioniert!
Oftmals wird Nachhaltigkeit der Gruppe der Besserverdienenden zugeschrieben, die mit Jutebeuteln und den neusten nachhaltigen Produkten das Stadtbild, z.B. auf dem Wochenmarkt prägen. Nachhaltiger Konsum geht aber auch mit einem schmalen Geldbeutel, sei es durch saisonale Lebensmittel (diese sind entsprechend günstiger), Verzicht auf Fleisch, einer überlegten Planung beim Einkauf („Was brauche ich wirklich?“), Secondhand Läden, Flohmärkten, „Zu-verschenken-Tischen“, einem Büchertausch, … Auch ein wertschätzender Umgang mit Dingen trägt dazu bei, weniger Neues zu brauchen. Und: Es macht echt Spaß, Dinge gestopft, geflickt, repariert oder umfunktioniert zu haben. Diese haben dann plötzlich einen viel höheren Stellenwert und sind qualitativ häufig besser als billige Ersatzanschaffungen. Bei Instagram findet ihr unter mottenwerk_kiel ein paar meiner Werke, die hoffentlich zum selber ausprobieren anregen.
Nachhaltigkeit bedeutet auch, seine eigene Mobilität in Frage zu stellen. Als Stadtbewohnerin mit Kindern und ohne PKW kann ich nur aus meiner Erfahrung berichten. Ich fahre ein Lastenfahrrad (e-Bike) und bin sehr glücklich darüber, auch im Winter und bei Sturm und Regen (in Kiel ja häufig der Fall) ist es mit der richtigen Klamotte, Kind und Einkauf überhaupt kein Ding, es macht Spaß und ist gesund.
Kiel 2030 - was ist Deine Vision für unsere Stadt?
Dies ist meine liebste Frage in diesem Interview, rosarote Brille auf und los geht’s ins Feel-good-Movie:
Verkehrs- und Energiewende, Nachhaltigkeit, Klimawandel, Welternährung haben oberste Priorität in Politik und Wirtschaft. Die Bemühungen, Stimmen und Proteste der letzten Generation (damit meine ich die letzte Generation, die noch etwas bewirken kann) haben Wirkung gezeigt, und die globale Klimakatastrophe konnte mit vereinter Kraft abgewendet werden. In Kiel wurden die Pläne zum Ausbau der Südspange aufgrund der klimagerechten Verkehrswende verworfen.
Ich schwinge mich auf mein Lastenfahrrad (finanziell gefördert) da ich später noch im Umsonst-Kaufhaus stöbern möchte und fahre auf der gut ausgebauten und sicheren SolaRoad (Fußgänger*innen und Fahrradfahrer*innen winken sich aus sicherer Entfernung zu) aus der Wik, am Stadtstrand vorbei, in die Innenstadt. Ich zapfe Leitungswasser aus einem Brunnen, der gleich neben dem Inklusiven Kinderwasserspielplatz steht. Mein Elektro- Lastenfahrrad kann ich auf einem der zahlreichen Abstellplätzen an der SolaRoad mit dem Strom laden, den ich mir zuvor selbst erfahren habe.
Ich lese Zeitungen aus der ganzen Welt (ein Stift übersetzt die Sprachen für mich) in der neuen Bücherei mit Ruhe und Laut-Bereichen, Rutschen, Hängematten und Sofas. Im selbst organisierten Bücherei-Café hole ich mir einen Snack, heute haben Menschen aus Afghanistan die Küche übernommen und ich lerne etwas über die Zubereitung von Mushawa. Der Speiseplan von morgen spricht mich mit Labskaus so gar nicht an, aber der Hering ist aus der Kieler Förde.
Meinen Tee nehme ich im Lautbereich ein, in dem sich die ältere Frau im Sessel neben mir durch die Streaming Angebote hört und ich mir ihre Musikauswahl mit anhören kann- Esther Ofarim, wie ich im Chat mit Klara, so heißt die ältere Dame neben mir, erfahre. Sie sei so glücklich verrät sie mir, dass sie vor kurzem bei der Volkshochschule einen der heiß begehrten Kurse (na, genau, kostenlos) ergattert habe, der ihr nun durch die Vermittlung von technischem Wissen die Welt neu eröffnet habe.
Auch mein Kind ist richtig gerne hier, heute hat die Kita (kostenlos) aber einen Ausflug geplant. Zunächst geht es mit der Elektro-Fähre (ja genau, kostenlos) die im 15 min. Takt das West und Ostufer miteinander verbindet nach Mönkeberg. Dort wurde vor kurzem ein Demeter- Gnadenhof in der Nähe des Ölbergs errichtet und die Kids statten den Tieren einen Besuch ab. Auf dem Hof lernen die Kinder etwas über nachhaltige Landwirtschaft, bevor sie Möhren und Kartoffeln für den Eintopf aus dem Gemüsegarten holen. Auf dem Hof arbeiten zahlreiche Menschen ehrenamtlich, das bedingungslose Grundeinkommen und die 30 Stunden-Woche, welche in Kiel als Modellprojekte getestet werden, sind ein voller Erfolg.
Flächen, auf denen vorher Parkplätze waren, laden durch begrünte Parklets zum Verweilen ein. Davon gibt es inzwischen immer mehr, weil die Menschen durch den Ausbau und eine gute Taktung des kostenlosen Nahverkehrs und die Förderung von Elektro- Lastenfahrrädern auf ein Auto verzichten können.
Auf der riesigen Infotafel am Welcome Center lese ich, welche Veranstaltungen heute noch in Kiel stattfinden und entscheide mich für einen Abstecher nach Gaarden. Der Weg führt durch die neue Mitte am Germaniahafen vorbei und ich lasse mein Fahrrad an der Radstation sicher stehen, um über die neu gestaltete Fußgänger*innenbrücke zu spazieren. Die Treppenstufen sind wie Klaviertasten und jeder Schritt spielt einen Ton. Es ist ein Klanggewirr, so viele Menschen gehen, hüpfen und staunen an der Treppe, laufen diese hoch und wieder herunter.
Ich schaue mir eine spannende Doku im Freiluftkino (ja, ja, kostenlos und ehrenamtlich betrieben) im Werftpark an und nehme für den Rückweg die Tram (kostenlos). Das Leben in Kiel bietet jeden Tag spannende kulturelle Angebote, an denen alle Menschen teilnehmen können. Ein Mix aus Mitteln des Bundes und des Landes SH, die gerechte Besteuerung von Vermögen, Einnahmen aus einem Bürger*innenfonds und Förderprogramme ermöglichen allen Kieler*innen die Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben. So lässt es sich aushalten, in der schönsten Stadt am Meer.
Der Hunger plagt mich, in einer öffentlichen Speiseküche kann ich für einen geringen Betrag ein vollwertiges und gesundes Bio-Essen einnehmen, Menschen, die wenig Geld haben, können hier kostenlos essen und sind nicht auf die Tafeln angewiesen. Verwertet werden in den öffentlichen Speiseküchen auch gerettete Lebensmittel, ja, richtig, viele ehrenamtlich Tätigen engagieren sich hier, da ihr Einkommen gesichert ist und die Lohnarbeit genügend Freizeit lässt.
Ein großer Möbelhaus hat die Auflagen der Ausgleichflächen erfüllt, einen Teil der begrünten Dachgärten auf den zahlreichen Industrie- und Unidächern zu gestalten, viele der Dachgärten können betreten werden, Bienen tummeln sich, Pilze wachsen und der erste Norddeutsche Weinhang entsteht auf einem der Dächer in Fördenähe.
Ich könnte jetzt noch so ewig weiter träumen, aber das sollte es erst einmal gewesen sein.
Die Interviews der vergangenen Monate
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