Geschichte des Kieler Grüngürtels
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1922 entwarfen Willy Hahn und Leberecht Migge eine neue städtebauliche Vision für Kiel. Kernelement war die Anlage des Grüngürtels rund um die heutige Innenstadt.
Bestehend aus Kleingartenanlagen, Sport- und Spielmöglichkeiten für alle Altersgruppen sowie Parkanlagen und Friedhöfen sollte der Grüngürtel der Gesundheit der Bevölkerung dienen und eine Selbstversorgung der Stadt mit Lebensmitteln gewährleisten.
100 Jahre Grüngürtel: Themen
Wachstum in der Kaiserzeit | Geschichte des Grüngürtels
Kiel war ab Mitte des 19. Jahrhunderts in nur wenigen Jahren von einer Kleinstadt zu einer durch kaiserliche Marine und Werftindustrie geprägten Großstadt gewachsen. Die Bevölkerung wuchs von 16.000 Personen im Jahr 1855 auf 243.248 Einwohner*innen im Jahr 1918.
Die Stadtplanung stellte dies vor große Herausforderungen. 1901 legte Stadtbaurat Josef Stübben eine Stadterweiterungsplan vor, der Wohnungen für bis zu 1 Million Menschen vorsah. Die Bebauung war überwiegend in der zeittypischen gründerzeitlichen Blockrandbebauung gestaltet. In dieser Zeit entstanden auch zahlreiche neue Grünanlagen. So zum Beispiel der Schrevenpark, der 1902 der Öffentlichkeit übergeben wurde.
Die damalige Stadtplanung sah noch keine funktionale Aufteilung von Grünflächen oder gar ein zusammenhängendes Grünsystem vor. In der Grüngestaltung lag der Schwerpunkt auf repräsentativen Schmuckplätzen, landschaftlich gestalteten Parkanlagen, Friedhöfen und Wald, die relativ wohnungsnah in der Stadt verteilt waren.
Schrevenpark und gründerzeitliche Blockrandbebauung
Flächenzuwachs | Geschichte des Grüngürtels
Im Zuge der Stadterweiterung zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaufte die Stadt zahlreiche Flächen, die heute Teil des Grüngürtels sind. So erwarb die Stadt 1907 die Gehege Vieburg und Kronsburg. Die genauen Umstände eines solchen Flächenkaufs beschreibt der damalige Leiter der Stadtgärtnerei hier am Beispiel des Gaardener Brook.
"Im Jahre 1912 erwarb die Stadt auch das Gaardener Brook, soweit es dem Dr. Klünder - früher Arzt in Gaarden - gehörte. Nicht die ganze Fläche war bewaldet, sondern eigentlich nur die steilen Abhänge der Mühlenau.
Die übrige Fläche wurde weiter als Garten erhalten bzw. als Kinderspielplatz freigegeben. Es war den Gaardener Bürgern viel daran gelegen, das schöne bewaldete Tal zu erhalten, denn es war in Gefahr von den Kindern, die es als Tummelplatz benutzten, ganz zerstört zu werden. So wurde es von der Stadt im Umfange von 17.000 qm erworben und in städtische Obhut genommen.
Die Verhandlungen mit der Sternbrauerei, die das unter Stück, die Teiche und die Wiese besitzt, haben sich leider wegen der zu hohen Forderung zerschlagen. [...] Der Teich ist jetzt von der Fa. Ehlers & Co. erworben und in eine reizvolle Gartenanlage, die dem Werk als Gemeinschaftsgarten dient, umgebaut worden." (Ferdinand Hurtzig: Die Geschichte der städtischen Gartenanlagen in den Jahren 1900 bis 1937. Kiel 1937)
Blick über Gaarden 1910
Obst- und Gemüseanbau | Geschichte des Grüngürtels
Bereits während des ersten Weltkriegs veränderte sich die Nutzung der neu erworbenen Flächen am Stadtrand. Die eigenständige Versorgung der Stadt mit Lebenmitteln stand zunehmend im Mittelpunkt des Verwaltungshandelns.
Vor Beginn des Krieges wurden die neu erworbenen Flächen am Stadtrand überwiegend verpachtet. Mit zunehmende Verschlechterung der Versorgungslage ging die Stadt dazu über, die Flächen eigentständig zu bewirtschaften und für den Anbau von Kartoffeln und Gemüse zu nutzen.
Zu diesem Zweck überwies ein Magistratsbeschluss von 1916 der Stadtgärtnerei zunächst eine Fläche von 30,5 Hektar für den Gemüseanbau. Ab 1919 wurde zusätzliche eine 12 Hektar große Fläche an der Kopperpahler Allee in eine Obstplantage umgewandelt.
Obstwiese
Die soziale Situation nach dem Krieg | Geschichte des Grüngürtels
Von der wirtschaftlichen und sozialen Not nach Ende des ersten Weltkriegs war Kiel besonders stark betroffen. Dies stellte auch städtebaulich und freiraumplanerisch eine neue Herausforderung dar.
Wirtschaftlich war Kiel nahezu ausschließlich von der Marine und dem militärischem Schiffbau auf den Werften abhängig. Durch die Zerschlagung der kaiserlichen Marine in Folge des verlorenen Kriegs ging diese wirtschaftliche Grundlage verloren. Die Folge waren eine hohe Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Hunger.
1920 wurde Emil Luecken zum Oberbürgermeister gewählt. Luecken versprach, nicht nur Wirtschaft und Handel auf eine vollkommen neue Grundlage zu stellen, sondern auch städtebaulich auf die veränderte Situation zu reagieren.
Zu diesem Zweck holte Emil Luecken sowohl Stadtbaurat Willy Hahn als auch den Landschaftsarchitekten Leberecht Migge nach Kiel. Mit beiden hatte Luecken bereits in der nahe Wilhelmshaven gelegenen Stadt Rüstringen zusammengearbeitet. Da Rüstringen ebenso wie Kiel von der kaiserlichen Marine abhängig war, war das Trio Luecken, Hahn und Migge gut auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Kiel vorbereitet.
Blick auf die kaiserliche Werft 1905
Der Grünflächen- und Siedlungsplan | Geschichte des Grüngürtels
Mit dem Grünflächen- und Siedlungsplan entwickelten Willy Hahn und Leberecht Migge eine umfassende neue Stadtentwicklungsplanung. Die Stadt sollte in Anlehnung an die Gartenstadtidee erweitert werden.
Willy Hahn und Leberecht Migge grenzten sich damit von der Stadtentwicklungsplanung der Kaiserzeit ab, an der sie sowohl die schnell hochgezogenen Mietskasernen als auch die mangelhafte Ausstattung der Stadt mit Grünflächen kritisierten.
Kernelement ihrer Planung war daher die Anlage des Grüngürtels rund um die bestehende kaiserzeitliche Hochbauzone, die in etwa der heutigen Innenstadt entsprach.
Neue Siedlungsgebiete wurden als Flachbauzonen geplant. Hier waren ein- bis dreigeschossige Wohnhäuser mit großen Gärten vorgesehen. Diese neue Siedlungsweise entstanden entlang der Ausfallstraßen aus der Hochbauzone und in so genannten Trabantensiedlungen außerhalb der eigentlichen Stadt. Diese Trabentensiedlungen befanden sich in einem Wald- und Wiesengürtel, der den Grüngürtel zum Stadtrand hin erweiterte.
Planung des Stadtaufbaus 1922
Die Konzeption des Grüngürtels | Geschichte des Grüngürtels
In einem Buch zum Ausbau des Grüngürtels beschreiben Willy Hahn und Leberecht Migge ihre Planungen sehr detailliert. Darin erläutert Stadtbaurat Hahn seine Überlegungen zur städtebaulichen Funktion und zur Zusammensetzung des Grüngürtels.
"Wenn man im Städtebau die Kunst sieht, dem lebendigem Bedürfnis aller in der städtischen Gemeinschaft lebenden Bewohner sichtbare Gestalt zu geben, so muss sich das besonders eindrucksvoll in der Ausrollung der Grüngürtelfrage erweisen. [...]
Die Bedürfnisfrage des Grüngürtels der modernen Städte kann heute im wesentlichen als geklärt gelten, sie ist festgelegt durch Forderungen der städtischen Bevölkerung nach Erholung in ihren verschiedenen Formen und nach Forderungen der städtischen Ernährungswirtschaft.[...]
So wären dann die Elemente eines Grüngürtels [...] die folgenden: Parkanlagen, Friedhöfe, Sport- und Spielplätze verschiedener Art und Größe vom Kleinkinderspielplatz bis zum Stadion, und die große Masse der städtischen Kleingärten; alle diese Teile in Verbindung gebracht durch ein System von Promenadenwegen und Straßen".
(Willy Hahn und Leberecht Migge. Der Ausbau eines Grüngürtels der Stadt Kiel. Kiel 1922)
Der Grüngürtel in den 1920er Jahren
„Jedermann Selbstversorger!“ | Geschichte des Grüngürtels
Nach dem Krieg wurde nach Lösungen für die schlechte Versorgungslage der Bevölkerung gesucht. Leberecht Migge schlug ein Selbstversorgungskonzept vor.
Seine konzeptionellen Überlegungen dazu veröffentlichte Migge bereits 1918 in der Schrift "Jedermann Selbstversorger". In Pachtgärten und genossenschaftlich verwalteten Siedlungen sollte die Bevölkerung sich eigenständig mit Lebensmitteln versorgen.
Bei den Planungen für den Kieler Grüngürtel konnte er seine Ideen sehr weitreichend umsetzen. So sollten im gesamten Grüngürtel Selbstversorgersiedlungen eingebettet werden. Darüber hinaus entwarf Migge ein ganzheitliches neues Abfall- und Kompostierungssystem, das die Gärten mit Naturdünger versorgen sollte.
Der heutige Stadtteil Hammer diente Migge als Mustersiedlung für die Umsetzung seiner detaillierten Pläne.