100 Jahre Kieler Rathaus

Ein neues Rathaus für Kiel

Einleitung

Im Souterrain einer Bar am Alten Markt erspähen aufmerksame Gäste zwischen Palmenwedeln und Cocktailschirmchen ein Gewölbe erstaunlichen Alters. Ins 14. Jahrhundert lässt es sich zurückdatieren und schließlich als Kellergewölbe des ursprünglichen alten Kieler Rathauses enttarnen.

1943 fiel es den Bomben des Zweiten Weltkrieges zum Opfer. Aber bereits 1911 hatte das Rathaus am „Markt“ seine Funktion als Verwaltungsgebäude der Stadt an unseren Jubilaren, das damals neue Rathaus, weitergegeben. Das spätmittelalterliche Gebäude an der Einmündung zur Holstenstraße war einfach zu klein geworden.

Als Kiel 1871 Reichskriegshafen wurde, wuchs die Einwohnerzahl rasant. Mehr Bürger bedeuteten größeren Verwaltungsaufwand, dem die Räumlichkeiten des Rathauses am heutigen Alten Markt nicht mehr gewachsen waren. Eine erste Raumbedarfsermittlung 1890 bestätigte die Platznot, die ersten Ämter mussten bereits ausquartiert werden.

Der Bau eines neuen Rathauses wurde als „nothwendig“ empfunden, eine „würdige künstlerische Ausführung als gebothen“ anerkannt. Dennoch passierte zunächst einmal gar nichts. 

Das Kieler Rathaus um 1910
Der Vorgänger: Das historische Kieler Rathaus am Alten Markt um 1910 | Foto: Stadtarchiv

Fleethörn als idealer Standort

Erst 1901, als in den umliegenden Städten immer mehr Rathausneubauten das Bild prägten, konnten sich auch die Stadtväter Kiels zum Bau eines neuen Rathauses durchringen. Wie in den anderen Städten sollte ein großangelegter Wettbewerb Architekten Entwürfe entlocken und gleichzeitig die Öffentlichkeit auf das Bauvorhaben aufmerksam machen.

Die Dimensionen des Neubaus machten einen Standort im Altstadtkern unmöglich. Das neue Rathaus wurde ausgelagert – in die Vorstadt. Als idealer Ort für das geplante – im 19. Jahrhundert nicht unübliche – Ensemble aus Rathaus und Stadttheater bot sich das Gelände der alten Gasanstalt in der Fleethörn an.

Das Stadttheater, heute Opernhaus, wurde bereits 1905 bis 1907 nach den Plänen von Heinrich Seeling fertiggestellt. Die Gebäudegruppe um den Neumarkt, dem heutigen Rathausplatz, sollte einen repräsentativen Rahmen für ein neues wirtschaftliches und zugleich kulturelles Zentrum schaffen und Kiel ganz klar als Kulturträger ausweisen.

"Venedig an der Förde"

Vorgaben für das Aussehen des Neubaus gab es nicht. Die Architekten erhielten zwar eine Auflistung des städtischen Raumbedarfs und einen Hinweis auf die problematische Hanglage der Baufläche sowie auf den Standort gegenüber von Stadttheater und Neumarkt. Im Hinblick auf Material, Gestaltung und Baustil ließen die Bauherren den Künstlern jedoch freie Hand. Aus diesen vagen Vorgaben resultierten vorerst wenig zufriedenstellende Entwürfe.

Erst nach dem zweiten Anlauf bekam der badische Architekt Hermann Billing den Zuschlag. Billing gehörte zu den führende Vertretern der deutschen Architektur dieser Zeit und das Kieler Rathaus war einer der Höhepunkte seiner Hauptschaffenszeit. Sein Stil, der durch die Verbindung des Jugendstils mit historischen Bauelementen des Barock über eine ganz eigene Formsprache verfügte, hatte für das Kieler Rathaus eine viel aufwendigere Architektur vorgesehen, als wir sie heute kennen.

Er vereinfachte die sehr kunstvolle, jedoch viel zu kostspielige Version mit zwei Türmen, großzügigen Giebeln und einem mächtigen Walmdach. Es entstand eine Fassade, die ihre Hauptakzente auf den Saalbau verlagerte. Die Giebel wurden durch ein mächtiges Mansardenwalmdach ersetzt und nur noch der Turm hinter dem Portalvorbau in vereinfachter Form realisiert.

Die Ähnlichkeit des Rathausturms mit der Campanile de San Marco in Venedig war dabei gewiss nicht zufällig und der Vergleich mit der Lagunenstadt als „Venedig an der Förde“ mit Sicherheit eine willkommene Assoziation für die aufstrebende Hafenstadt. 

Schwarz-Weiß-Foto: ein Mann mit spitzem langen Bart
Architekt Professor Hermann Billing
Bild: Scan aus dem Besitz von Hubert Voss

Endlich, im August 1907, stand der Umsetzung der Rathauspläne nichts mehr im Wege, die Bauarbeiten des damals neuen Rathauses konnten beginnen. Die Räumlichkeiten des Rathauses am Alten Markt dienten von 1911 bis zu seiner Zerstörung als Zweigstelle der Stadtverwaltung, als Stadtbücherei und Lesehalle. Heute dienen sie dem Ambiente einer Bar, der man vielleicht nicht nur der Cocktails wegen einen Besuch abstatten sollte.